In der heutigen Zeit, in der Meinungsverschiedenheiten oft hitzig und polarisierend geführt werden, gewinnt das Thema der Streitkultur zunehmend an Bedeutung. Innerhalb seines Start-Ups „Streitgut“ beschäftigt sich Daniel Privitera gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen mit genau diesem Thema. Ihr Ziel ist es, die Streitkultur in Deutschland zu verbessern und zu einem konstruktiven Austausch beizutragen.
Um dieses Ziel zu erreichen, analysiert das Team von Streitgut Interviews, Talkshows und andere öffentlich geführte Diskurse, um zu verstehen, wie Diskussionen geführt werden und wie diese konkret verbessert werden könnten.
Wir haben mit Daniel Privitera über die Bedeutung einer konstruktiven Streitkultur gesprochen und welche Schritte Unternehmen und Individuen unternehmen können, um zu einer verbesserten Diskussionskultur beizutragen.
Was müssen wir deiner Meinung nach an unserer Streitkultur zukünftig verbessern?
Das Wichtigste für uns als Individuen ist, unsere Grundhaltung, mit der wir an Meinungsverschiedenheiten herangehen, zu ändern. Statt im Recht-habe- oder Kampf-Modus zu verharren, sollten wir den Neugier-Modus als Leitbild nehmen. Unser Gehirn neigt dazu, sich und unsere Identität und Meinung bei Meinungsverschiedenheiten zu verteidigen. Gerade in komplexen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen, in denen verschiedene Meinungen und legitime Interessen aufeinandertreffen, ist es jedoch hilfreich, zuerst neugierig zu sein, zuzuhören und sich erstmal in eine neutrale Beobachterposition zu begeben. Dadurch können wir besser verstehen, wie und warum das Gegenüber so denkt, bevor wir unsere eigene Position klar kommunizieren. Das Mindset, mit dem wir uns in eine Debatte begeben, ist also ausschlaggebend für eine konstruktive Streitkultur. Es gibt natürlich viele andere Methoden und Tricks, um Gespräche konstruktiver zu gestalten, aber diese sind häufig wirkungslos, wenn ein Gewinner-Mindset vorherrscht.
Hat das Thema einer Debatte einen maßgeblichen Einfluss auf die Art, wie wir sie führen? Und stellen gesellschaftlich große und umstrittene Themen, wie z.B. der Klimawandel oder der Kapitalismus, eine Herausforderung oder eher eine Chance für eine konstruktive Gesprächskultur dar?
Je spezifischer das Thema, desto besser ist oft die Diskussion. Bei großen Konzepten wie Klimawandel oder Kapitalismus können scheinbar fundamentale Meinungsverschiedenheiten entstehen, die jedoch bei Betrachtung konkreter Beispiele oft mehr Gemeinsamkeiten aufzeigen als zunächst gedacht. Spezifische Fragestellungen helfen außerdem, Meinungsverschiedenheiten klarer zu erkennen und zu vermeiden, dass diese großen Begriffe wie „Kapitalismus“ ungehemmt aufeinanderstoßen.
Können wir noch einmal auf die angesprochenen Tools für konstruktives Gesprächsverhalten eingehen?
Die meisten Tools für ein konstruktives Gesprächsverhalten bestehen aus Fragen. Das passt entsprechend gut dazu, dass die beste Gesprächskultur von einem Neugier-Mindset begleitet wird. Eine Frage, die ich oft empfehle, ist:
„Wie bist du zu deiner Meinung gekommen? Und was hat dich dabei geprägt?“
Diese Frage ermöglicht es, die dahinterliegenden Gedanken des Gegenübers zu verstehen und zeigt, dass dort eine Tiefe von Gedanken und Erfahrung existiert. Eine andere Frage, die sich bewährt hat, ist:
„Wovon wünschst du dir, dass ich es jetzt besser verstehen würde?“
Diese Frage zeigt Lösungsorientierung und lädt das Gegenüber ein, Verständnislücken zu klären. So wird das Gespräch auf einen kritischen und relevanten Punkt geleitet, von dem aus es dann produktiv fortgesetzt werden kann.
Als Initiative progressiver Industrieunternehmen aus der Metallindustrie möchten wir unseren Beitrag zu einer gelungenen Transformation leisten. Auf welche Dinge sollten wir alle im Diskurs besonderen Wert legen? Und wie schaffen wir es, den Austausch konstruktiv zu führen?
Zunächst ist es wichtig, ehrlich zu sein und einen offenen Umgang mit den eigenen Zwängen und limitierenden Faktoren als Unternehmen, das sich am Markt behaupten muss, umzugehen. Unternehmen sollten sich ihrer Herausforderungen bewusst sein und sie konkret und transparent ansprechen, da dies zu einem offeneren, vertrauensvolleren und gleichzeitig produktiveren Diskurs beiträgt.
Zweitens würde ich empfehlen, die andere Seite zu hören und zu verstehen. Eine echte Bereitschaft zuzuhören und Fragen zu stellen, fördert die Konstruktivität des Austauschs. Gerade in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen ist es entscheidend, dass alle Beteiligten danach streben, gemeinsam kreative Lösungen zu finden und Win-Win-Situationen anzustreben.
Ein dritter Ratschlag ist, den sogenannten Binary-Bias zu vermeiden. Oft neigen Menschen dazu, komplexe Entscheidungen auf eine A-oder-B-Entscheidung zu reduzieren, da dies für das Gehirn einfacher ist. Diese Denkweise kann jedoch den wahrgenommenen Handlungsspielraum einschränken und zu Lagerdenken führen. Um dies zu vermeiden, ist es ratsam, sich zu zwingen, über A und B hinauszudenken und alternative Vorschläge zu entwickeln, die über die traditionellen Optionen hinausgehen. Dies ermöglicht es dann, die Vor- und Nachteile verschiedener Optionen besser zu durchdenken und zu diskutieren.
Du hast beschrieben, dass je spezifischer die Debatte ist, desto zielführender ist sie häufig. Gleichzeitig wird die Zeitdimension immer wieder als sehr wichtiger Parameter beschrieben. Besteht dann ein Zielkonflikt zwischen einer strengen Zeitdimension und einem ausgeprägten und spezifischen Diskurs?
Es ist wichtig anzuerkennen, dass die Zeit ein limitierender Faktor in Diskussionen ist und dies die Situation herausfordernder und dringlicher macht. Die begrenzte Zeit erfordert effiziente und zielorientierte Gespräche. Gleichzeitig sollten wir uns daran erinnern, empathisch mit allen Beteiligten umzugehen, da sie alle mit derselben zeitlichen Begrenzung konfrontiert sind.
Die Schwierigkeit, die mit dem Zeitlimit einhergeht, kann jedoch auch eine positive Wirkung haben. Sie kann dazu beitragen, Ärgernisse und Blockaden in den Gesprächen beiseitezuräumen und gemeinsam konstruktiv an die Problematik heranzutreten.
Ich würde gerne auch noch auf das Thema Künstliche Intelligenz (KI) in diesem Zusammenhang eingehen. Mit KI hat nun ein weiteres Instrument Einzug in die Diskurslandschaft gehalten. Mit dem von dir gegründeten Zentrum für KI-Risiken & -Auswirkungen (KIRA) möchtest du die Risiken der so beeindruckenden und rasant voranschreitenden Innovationen bekanntmachen und diskutieren.
Vor dem Hintergrund unseres Gespräches und einem, zumindest gefühlt, immer kleiner werdenden Meinungskorridor im gesellschaftlichen Diskurs, welche konkreten Risiken kommen durch KI auf unsere demokratische Diskursführung zusätzlich zu?
Die Entwicklung von KI birgt sowohl Risiken als auch Chancen für die demokratische Diskursführung. Ich kategorisiere die Risiken meist in 3 Gruppen: Missbrauchsrisiken, Kontrollrisiken und zuletzt das Risiko der Verstärkung gesellschaftlicher Konflikte.
In Bezug auf die Demokratie stehen wir momentan vor vielen Fragen und meiner Meinung nach einem verstärkten Risiko der Verwaschung des öffentlichen Diskurses. KI-generierte Informationsartefakte scheinen sehr realistisch und sind teils schwer als unwahr zu erkennen. Es besteht die Gefahr, dass sich eine allgemeine Grundskepsis gegenüber Informationen entwickelt, was gerade innerhalb von Diskursen über große Themen, wie den Klimawandel, negative Auswirkungen haben kann.
Wir sind diesen KI-bezogenen Risiken jedoch nicht ausgeliefert. Wir können gesellschaftliche Normen und neue Umgänge mit diesen Werkzeugen entwickeln. Das kann sich zum Beispiel durch verminderten Konsum von KI-generierten Informationen spiegeln, was gleichzeitig eine gesündere Skepsis gegenüber solchen Informationsflüssen fördert. Dadurch wird dann auch wieder ein stärkerer Fokus auf etablierte Informationsquellen gesetzt. Neben den gesellschaftlichen Normen muss sich jedoch auch die Gesetzeslage verändern und anpassen.
„Durch ein Zusammenspiel der gesellschaftlichen Normen, technischer Lösungen und regulativer Vorschriften können diese Risiken aufgefangen werden. Aber es passiert nicht von selbst.“Daniel Privitera
Gründer von KIRA & Streitgut
Du hast die bestehenden Chancen der KI bereits kurz angesprochen. Welche genauen Chancen ergeben sich denn durch KI im Rahmen einer Transformation hin zu mehr Nachhaltigkeit?
KI bietet viele und vor allem vielfältige Chancen, von denen wir uns viele noch gar nicht richtig vorstellen können. Effizienzsteigerung, in Form von gesteigerter Energieeffizienz, aber auch allgemein innerhalb verschiedener Wertschöpfungsprozesse ist eine davon. KI kann außerdem in der Produktivitätssteigerung helfen und innovative Lösungen im Dienstleistungssektor ermöglichen. Im öffentlichen Diskurs kann KI zum Beispiel als Moderator und Lösungsfinder fungieren und so zu einer konstruktiven Diskussionskultur beitragen.
Welche Schritte würdest du Unternehmen empfehlen, wenn sie sich und ihre Mitarbeiter*innen auf diese Entwicklungen vorbereiten wollen?
Unternehmen sollten keine Scheu haben, sich mit neuen Entwicklungen, wie KI, auseinanderzusetzen. Es ist wichtig, sich mit den neuen Werkzeugen vertraut zu machen, um Arbeitsprozesse zu erleichtern und am Puls der Zeit zu bleiben. Die Auseinandersetzung mit KI ermöglicht es Unternehmen, effektiv auf Veränderungen zu reagieren und ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken.
Das Interview lieferte einen tieferen Einblick in die Bedeutung einer konstruktiven Streitkultur. Eine offene und neugierige Grundhaltung in Diskussionen einzunehmen, ist wegweisend für ein lösungsorientiertes Gesprächsklima. Die Betrachtung spezifischer Themen und das Vermeiden von binären Entscheidungen können dazu beitragen, Missverständnisse zu minimieren und Brücken zwischen verschiedenen Standpunkten zu bauen.
Wir möchten uns herzlich bei Daniel Privitera für die Einblicke und Erkenntnisse bedanken. Mit Streitgut leistet er einen wertvollen Beitrag zur Förderung einer konstruktiven Streitkultur in unserer Gesellschaft, mit der wir gemeinsam Lösungen finden und einen positiven Beitrag für eine nachhaltige Zukunft leisten können.
KI generierte In-Text Bilder